Sie überlegte heute nur kurz, ob sie die alte Stube oder die Veranda für ihr tägliches Rendezvous mit einem Glas Rotwein bevorzugt, es war vor einigen Tagen ein eisiger Wind in das Dorf gezogen, die Bäume waren mit glitzernden Eiszapfen übersät und sogar der widerstandsfähige Efeu sah etwas blass aus. Wie in Trance goss sie exakt ein Achtel Rotwein in das alte Glas, versuchte ein möglichst staubfreies Plätzchen in ihrer kleinen Stube zu finden. Nicht, dass sie nicht putzen würde, in diesem Haus setzte sich aber schon nach einigen Stunden wieder der Staub auf die viel zu alten Möbel. Sie ist keine schlechte Hausfrau, das war sie nie. Jeden Abend kochte sie sich ein aufwändiges Abendmahl, entgegen vieler Erwartungen der Dorfbewohner, heute war es ein Reistopf, chinesisch. Wenn man ihren Wohnort betrachtet, könnte man meinen, sie wär gänzlich altmodisch, dem war jedoch nicht so. Sie besaß sogar ein Mobiltelefon, sie benutzte es nur nie. Sonntags backte sie meist einen Kuchen, sie aß drei Stück davon und musste den Rest oft wegwerfen, nie hatte jemand irgendjemanden zu ihrem Haus fahren sehen, niemand wusste, ob sie jemals jemand besucht hatte.
Sie trank das erste Glas in schnellen Zügen aus, das Zweite trank sie schon etwas bedächtiger, beim dritten Glas nippte sie nur noch zwischen ihren langen Gedankengängen. Die Menschen beschrieben sie als einsam, sie selbst war mit ihrem Glas Rotwein als Gesellschaft sehr zufrieden. Sie saß einfach nur da, gedankenverloren, ohne Musik im Hintergrund, ohne Fernseher, ohne Bücher, sie saß nur zusammengesunken auf der grauen Sofa, dahinter ein dunkles Bild, in rote und schwarze Farbe getränkt. Sie träumte sich in eine andere Welt, in eine Welt, die sie selbst nicht beschreiben kann. Irgendwie fröhlicher war sie schon, nicht zu fröhlich, nichts mehr hasste sie, wie überfröhliche Menschen. Es wäre fast alles gleich, in ihrer perfekten Welt, sie würde gerne für immer in diesem Laden arbeiten, und trotzdem erträumt sie sich irgendetwas anders. Mit jedem Glas Rotwein verschwimmen ihre Vorstellungen der Gedankenwelt mehr und mehr mit der echten, realen Welt, vielleicht auch, weil sie sich dann gar nicht mehr so sicher ist, ob sie etwas ändern möchte. Nach dem dritten Glas Rotwein verlässt sie wehmütig ihre Stube, stellt das fragile Glas in die Küche und begibt sich leise in ihr Schlafgemach, lässt sich in eine Welt der Träume fallen und vergisst, vergisst für eine Nacht.
[Fortsetzung folgt]